Gutscheine für Asylbewerber: Die Diskriminierung an der Kasse

Im Landkreis Harburg werden an Asylbewerber Wertgutscheine ausgegeben | Foto: jd
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Wertgutscheine für Asylbewerber stehen vor dem Aus. Erlass von Innenminister Boris Pistorius (SPD) macht es möglich.

(mum). Können Sie sich noch an den TV-Spot zur AIDS-Aufklärung Anfang der 90er Jahre erinnern? Hella von Sinnen spielte eine Kassiererin im Supermarkt und Ingolf Lück einen verschüchterten Kunden, der versucht, unauffällig Kondome zu kaufen. Als der Kunde an der Reihe ist, ruft die Verkäuferin mit lauter Stimme durch den ganzen Laden: „Rita, wat kosten die Kondome?“ Eine peinliche Situation. Genau diese - nur zigfach schlimmer - erleben Asylbewerber täglich in Deutschland. Denn ein Großteil der monatlichen Leistung (217 von 354 Euro) die Flüchtlinge erhalten, werden in Form von Gutscheinen ausgezahlt.
„Das ist unglaublich diskriminierend für die Betroffenen“, sagt Erk Jessen von der Arbeiterwohlfahrt. Gemeinsam mit Dorothea Gabelmann (Diakonisches Werk) und Martina Ostwald (Flüchtlingsberatung der Gemeinde Seevetal) gehört er dem Arbeitskreis Migration im Landkreis Harburg an. Das Trio setzt sich dafür ein, dass die Gutscheine durch Bargeld ersetzt werden.
Der neue niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) hat jetzt den Landkreisen per Erlass freigestellt, ob sie anstelle von Gutscheinen Bargeld auszahlen. Der Kreis würde so auch noch 32.000 Euro in 2013 sparen.
Die Ausgabe von Wert-Gutscheinen an Asylbewerber ist seit Jahren umstritten. Der neue Innenminister Boris Pistorius (SPD) hat jetzt eine Vereinbarung des Koalitionsvertrages umgesetzt und den Landkreisen per Erlass freigestellt, ob sie anstelle von Gutscheinen Bargeld auszahlen. „Das Thema steht Mitte Mai auf der Tagesordnung im Kreissozialausschuss“, sagt Landkreis-Sprecher Bernhard Frosdorfer. „Wenn es politisch gewollt ist, werden wir die Gutscheine abschaffen.“ Eine Entscheidung darüber könnte der Kreistag Mitte Juni treffen. Bereits jetzt hat die SPD angekündigt, einen entsprechenden Antrag zu unterstützen.
„Es wird höchste Zeit, dass das Gutschein-System abgeschafft wird“, sagt Erk Jessen von der Arbeiterwohlfahrt. Jessen sowie die übrigen Mitglieder des Arbeitskreises Migration können viele Bespiele nennen, bei denen Asylbewerber diskriminiert werden. Bei einem Discounter wurden die Gutscheine nicht akzeptiert, weil der Kunde sie bereits vorher unterschrieben hatte. „Ihm ist die Situation an der Kasse stets peinlich, weil andere Kunden darauf warten müssen, dass er endlich fertig wird“, sagt Jessen. Manchmal würde er warten, bis die Kasse leer ist. In einem anderen Fall wollte ein Flüchtling eine Matratzen für 69,99 Euro kaufen. Das wurde ihm mit der Begründung verwehrt, Nicht-Lebensmittel dürften nur einen Wert von höchstens zehn Euro haben. „Viele Verkäufer wissen gar nicht, wie sie mit den Gutscheinen umgehen sollen“, so Jessen. Ausbaden müssten dies die Asylbewerber.
Im Landkreis Stade, wo ebenfalls die Gutscheine zum Einsatz kommen, sollen sich Flüchtlinge an dubiose Händler wenden, um die Gutscheine zu Geld zu machen. Es gebe Geschäfte, die Gutscheine zu einem Kurs von 10:6 einwechseln. Für einen Nennwert von 100 Euro werden dann 60 Euro in bar ausgezahlt. Soweit ist es aus Sicht der Flüchtlings-Experten im Landkreis Harburg noch nicht. Couragierte Bürger machen ihren Einkauf gemeinsam mit Flüchtlingen. Die Ware wird mit den Gutscheinen bezahlt und die Flüchtlinge erhalten das Geld vor dem Supermarkt in bar.
Experten sagen, dass es ohne weiteres möglich sei, die Gesamtleistung in bar auszuzahlen. Schon jetzt würde jeder Asylbewerber 137 Euro „auf die Hand“ bekommen.
Abgesehen vom der menschlichen Komponente hat die Gutschein-Praxis auch einen finanziellen Aspekt. Laut Kreissprecher Frosdorfer sind dem Landkreis Harburg für die Ausgabe der Wertgutscheine in 2012 Kosten in Höhe von 11.602 Euro entstanden. Für 2013 ist mit 32.000 Euro zu rechnen. Die gesamte Abwicklung läuft über die Firma Sodexo, ein französisches Unternehmen, das weltweit im Wertbon-Management tätig ist. Sodexo kassiert für diese Dienstleistung kräftig ab - im Landkreis Stade beispielsweise jährlich etwa 10.000 Euro. Außerdem müssen die Unternehmen, die die Gutscheine akzeptieren, eine Provision an Sodexo zahlen. Wie hoch diese ist, wollte das Unternehmen nicht verraten.

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Setzen sich dafür ein, dass das Gutschein-System abgeschafft werden (v. li.): Dorothea Gabelmann, Martina Ostwald und  Erk Jessen
Redakteur:

Sascha Mummenhoff aus Jesteburg

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