Der andere Mauerfall: Von einem, den es nach Osten zog

Die innerdeutsche Grenze südlich von Göttingen: Kolonnen von Trabis passieren den "Todesstreifen" am provisorischen Grenzübergang
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(jd). Abertausende strömten in den Westen, WOCHENBLATT-Reporter Jörg Dammann nahm die Gegenrichtung. Nach dem 9. November war die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR auch in die Gegenrichtung problemlos passierbar - ohne langwierige Visa-Beantragung. WOCHENBLATT-Reporter Jörg Dammann nutzte damals die Chance, um in den Osten zu fahren und Verwandte zu besuchen. Für den "Wessi" war es eine spannende Reise in ein Land, das den meisten Bundesbürgern fremd war.

Auch an der innerdeutschen Grenze gab es kein Halten mehr. Über die wenigen offiziellen Kontrollstellen zogen endlose Kolonnen von Trabis und Wartburgs gen Westen. Das Ziel waren grenznahe Städte wie Göttingen, wo ich seinerzeit studierte. Hier holten sich die DDR-Bürger ihre 100 D-Mark Begrüßungsgeld ab, um sich bei Aldi und Co. einzudecken. Da der Ansturm auf den verlockenden Westen nicht abebbte, begannen die DDR-Behörden, weitere Löcher in den Eisernen Vorhang zu reißen.

Es war der 12. November, ein wunderschöner, sonniger Sonntag, als mich morgens ein Freund anrief, der nahe der Grenze lebte. "Hier ist die Hölle los, der Zaun ist offen", tönte es euphorisch aus dem Telefon. Wir beschlossen, den 9. November, den wir nach einer Studentenparty verschlafen hatten, für uns persönlich nachzuholen und zum provisorischen Übergang zu fahren, der kurz zuvor mit Hilfe schwerer Baufahrzeuge geschaffen worden war.

Während sich die "Rennpappen-Raupe" quer durch Grenzstreifen und Minengürtel nach Westen fortbewegte, kamen wir spontan auf die Idee, einen Trip in den Osten zu unternehmen. "Lass uns meinen Onkel Werner in Wernigerode besuchen", schlug ich vor. Zur Feier des Tages musste nur der Personalausweis statt des Reisepasses vorgezeigt werden. Wir blätterten unsere 25 D-Mark für den 1:1-Zwangsumtausch in Ostmark hin und das Abenteuer konnte beginnen.

Zu Fuß liefen wir gegen den Strom tuckernder Trabis ins nächste Dorf. Anschließend versuchten wir es per Autostopp - mit der Angst im Nacken, dass uns die Volkspolizei einkassiert, denn wir wussten nicht, ob Trampen in der DDR erlaubt war. Wenig später saßen wir in einem Laster der Ost-Marke IFA. Der Fahrer wollte in Nordhausen Baumaterial abholen und im Gegenzug Feuerholz abliefern. Ein für die DDR-Mangelwirtschaft typisches Tauschgeschäft.

In Nordhausen stiegen wir in die Harzquerbahn. Gezogen von einer schnaubenden Dampflok zockelte der Zug quer durch den Ostharz nach Wernigerode. "Aussteigen verboten" stand an einigen Stationen. Ein Teil der Strecke führte durch das Sperrgebiet entlang der Westgrenze - und das durfte nur mit Passierschein betreten werden.

Die Überraschung war groß, als wir bei meiner Verwandtschaft klingelten. Onkel Werner, Tante Marga und Cousine Gabi staunten nicht schlecht. Mit Nordhäuser Schnaps stießen wir auf die Wende an. Die drei waren noch nicht im Westen gewesen. "Wir warten, bis sich der ganze Trubel ein wenig legt", meinte Onkel Werner. Bis in die Nacht diskutierten wir über Mauerfall, Wende und Wiedervereinigung.

Am Montag ging es zuerst in die HO-Kaufhalle: Wir wollten Hasseröder Pilsener kaufen - als Wegzehrung für die Heimreise. Das Bier, das in Wernigerode gebraut wird, hatte schon zu DDR-Zeiten Kultstatus - kein Wunder, dass es als eines der wenigen Ost-Produkte den Untergang des Arbeiter- und Bauernstaates überlebt hat.

Doch die Dame in der Kaufhalle wollte das leckere Gesöff nur bei Abgabe von Leergut herausrücken. Sogar Bierflaschen waren Mangelware. Nebenan befand sich der Obst- und Gemüsestand. Eine überschaubare Auswahl: Weiß- und Rotkohl, Zwiebeln sowie Möhren - und ein paar Äpfel. Heute nennt man das saisonales Angebot.

Während die Menschen an einer Ecke wegen einer Sonderlieferung Fleisch Schlange standen, war im Intershop Totentanz. Hier gab es West-Waren gegen harte West-Währung. Doch was sollten sich die Leute noch beim Abklatsch bedienen, wenn für sie nun das Original erreichbar war. Bevor wir uns auf den Heimweg machten, stärkten wir uns noch mit dem Fastfood-Klassiker der DDR: dem Goldbroiler. Dieses Grillhähnchen war das sozialistische Pendant zum kapitalistischen Burger.

Pappensatt quetschten wir uns in den Trabi, mit dem uns mein Onkel zum nächstgelegen Bahnhof im Westen brachte.

Tschüss DDR.

Redakteur:

Jörg Dammann aus Stade

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