Pflegekammer Niedersachsen: Ist das Vertrauen schon verspielt?

Altenpfleger Faruq-Johannes Schwesig erwägt rechtliche Schritte gegen den Beitragsbescheid
  • Altenpfleger Faruq-Johannes Schwesig erwägt rechtliche Schritte gegen den Beitragsbescheid
  • hochgeladen von Bianca Marquardt

(bim). "Das bezahle ich nicht", "Die Selbstauskunft fülle ich nicht aus" oder: "Den Brief habe ich weggeworfen" - Das sind die Reaktionen von Pflegefachkräften gegenüber dem WOCHENBLATT auf das Anschreiben der Pflegekammer Niedersachsen. Nachdem ein Sturm der Kritik über der neuen Pflegekammer hereinbrach, wurde deren Präsidentin jetzt von Sozialministerin Carola Reimann (SPD) einbestellt und auf Überarbeitung und Änderung der Beitragsordnung gedrängt. Der in einer Petition geforderten Abschaffung der Pflegekammer Niedersachsen mit inzwischen mehr als 42.600 Unterzeichnern erteilte die Sozialministerin aber eine Absage.
„Ich schlage der Kammerversammlung vor, zukünftig auf die Festsetzung eines Höchstbeitrags in Regelbescheiden zu verzichten. Eine Arbeitsgruppe wird sich umgehend mit der Überprüfung und Überarbeitung der Beitragsordnung beschäftigen“, teilte Kammerpräsidentin Sandra Mehmecke nach dem Gespräch mit. Ein Mitgliedsbeitrag sei aber unentbehrlich und diene der Finanzierung der gesetzlichen Selbstverwaltungsaufgaben der Kammer.
Wie berichtet, sind nun per Gesetz alle Fachkräfte der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege Mitglieder der Pflegekammer und sollen deren Arbeit mit ihren Mitgliedsbeiträgen - mit 0,4 Prozent ihrer Jahreseinkünfte - finanzieren. Damit die Pflegefachkräfte die angefügte Selbstauskunft ausfüllen, wurde ihnen erstmal der Höchstsatz von 140 Euro "Halbjahresbeitrag" angedroht, was Jahreseinkünften von 70.000 Euro entspricht, die höchstens Heimleitungen erhalten. Das durchschnittliche Jahreseinkommen von Pflegekräften liegt bei rund 30.000 Euro.
Stinksauer über das Vorgehen der Pflegekammer ist auch Faruq-Johannes Schwesig aus Jesteburg, stellvertretender Stationsleiter der Reha-Abteilung der Waldklinik Jesteburg und seit 30 Jahren examinierter Altenpfleger. Er war eine von Tausenden Pflegefachkräften, die nach der Beitragsforderung bei der Pflegekammer anrief, um rechtliche Fragen zu klären. "Ich wollte aber keine Rechtsberatung, sondern erfahren, wie man gegen die Beitragserhebung Widerspruch einlegen kann", sagt er. Doch statt ihm Auskunft zu geben, sei die Dame am anderen Ende der Telefonleitung barsch und unfreundlich geworden. "Sie war fachlich nicht kompetent, wies mich lediglich auf die Frist zur Abgabe der Selbsteinstufung hin und dass ich bei Nichteinhaltung den Höchstsatz zahlen muss", berichtet der Jesteburger.
Was ihn außerdem beim Vorgehen der Pflegekammer stört:
• Das Anschreiben ist datiert auf den 10. Dezember 2018, traf aber erst um den 20. Dezember bei den Pflegefachkräften ein. Die Zwangsmitglieder haben vier Wochen Zeit, die Selbsteinstufung auszufüllen oder gegen den Bescheid Klage beim Verwaltungsgericht Lüneburg einzureichen. "Dafür muss ich einen Anwalt bemühen. Durch den Zeitpunkt der Zustellung über die Feiertage verkürzte sich die Frist, Einsprüche einzulegen", so Faruq-Johannes Schwesig.
• Der Konkurrenzkampf um die Pflegefachkräfte werde geschürt, denn für eine Mitgliedschaft gilt der Ort der Berufsausübung. Da die Pflegekammern bislang Ländersache sind und es in Hamburg keine gibt, könnten sich die in der Metropolregion zwangsverpflichteten Mitglieder auch eine Arbeitsstelle in der wenige Kilometer entfernten Hansestadt suchen, um sich den Kammerbeitrag in Niedersachsen zu sparen. 
• Einen Tag nach dem Gespräch von Kammerpräsidentin und Sozialministerin lag das erste Mitteilungsblatt der Kammer in den Briefkästen der Pflegekräfte. "Damit hätte man noch bis nach der Überarbeitung der Mitgliedsbeiträge warten können", meint Schwesig. "Dafür werden Mitgliedsbeiträge ausgegeben", sagt er kopfschüttelnd.
• Ihn ärgert auch die Aussage von Andreas Westerfellhaus, Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung, der die Pflegekräfte davor warnte, sich von Lobbygruppen, die Vorbehalte gegen die Pflegekammer hätten, vor den "Karren spannen" zu lassen. "Bei mir hat niemand an der Tür geklingelt, und denken kann ich alleine", sagt Schwesig süffisant zu dieser Arroganz. "Meine Ansprechpartner, die meine Interessen als Arbeitnehmer vertreten, sind der Betriebsrat und die Gewerkschaft Ver.di und nicht irgendeine Pflegekammer", so Schwesig. Die hätte seiner Überzeugung nach erstmal Vertrauen schaffen müssen, statt die Mitglieder gleich mit einer Höchstsatz-Forderung zu nötigen.


Bedenken der Gewerkschaft


Die Pflegekammer soll u.a. die Interessen der Pflegefachkräfte gegenüber Politik und Gesetzgebung vertreten. Allerdings sind das originäre Aufgaben von Berufsverbänden und Gewerkschaften.
Und die Gewerkschaft Ver.di hat schon beim Gesetzentwurf zu Errichtung der Pflegekammer Niedersachsen im Juli 2015 gefragt, wie denn eine Kammer die Interessen nach besserer Ausbildung, Bezahlung und Personalschlüsseln durchsetzen soll, der - entgegen jeder anderen Kammer - nicht die Arbeitgeber, sondern die Arbeitnehmer angehören. Es bestehe die Gefahr, "dass politisch Verantwortliche sich unter Verweis auf die scheinbare Aufwertung der Pflegeberufe durch Kammern ihrer Verantwortung entziehen und echte Problemlösungen weiterhin verweigern", so Ver.di. Die verpflichtende Mitgliedschaft der examinierten Pflegekräfte in einer Pflegekammer stelle einen eklatanten Eingriff in die Koalitions- und Berufsfreiheit dar.

Fragen und Antworten rund um die Pflegekammer

Folgende Fragen, die Pflegekräfte an das WOCHENBLATT herangetragen haben, beantwortet Tino Schaft, Pressesprecher der Pflegekammer Niedersachen.
Was passiert, wenn die angeschriebenen Pflegefachkräfte die Selbstauskunft verweigern bzw. den Beitrag nicht zahlen?
Tino Schaft: Niemand soll mehr zahlen als 0,4 Prozent seiner Jahreseinkünfte. Dafür ist allerdings die Selbsteinstufung für die exakte Berechnung des individuellen Beitrags notwendig. Nach Rücksendung bekommt das Mitglied einen neuen Bescheid. Wird die Selbstauskunft nicht zurückgeschickt, wird der Höchstbeitrag in Höhe von 140 Euro für 2018 fällig. Es muss sich aber niemand Sorgen machen, wenn seine Selbstauskunft ein paar Tage später eingeht.
Eine Kammermitgliedschaft ist immer mit einer Beitragszahlung verbunden. Ein Widerspruch gegen den Beitragsbescheid hat keine aufschiebende Wirkung.
Die Kammerversammlung arbeitet mit Hochdruck an einer Überprüfung und Überarbeitung der umstrittenen Beitragsordnung.
Hat die Pflegekammer die Kompetenz, Berufsabschlüsse abzuerkennen?
Tino Schaft:
 Das ist eine der hartnäckigsten Unwahrheiten, die über die Pflegekammer verbreitet werden. Nur ein ordentliches Gericht kann Berufsurkunden aberkennen. Die Pflegekammer hat dazu nicht die gesetzliche Legitimation. Fakt ist aber auch, dass Pflegefachpersonen ihre Berufsurkunde nicht einfach abgeben können, um der Mitgliedschaft zu entgehen.
An wieviele Pflegefachkräfte wurden die Wahlunterlagen im Frühjahr 2018 verschickt? 
Tino Schaft: 
46.742 vollständig registrierte Mitglieder konnten an den ersten Wahlen zur Kammerversammlung teilnehmen. Die Wahlbeteiligung lag bei 30,26 Prozent. Die Briefwahlunterlagen haben nur bis zum Stichtag vollständig registrierte Mitglieder erhalten. Nur so konnte sichergestellt werden, dass nur wahlberechtigte Personen (Pflegefachperson, Tätigkeit in Niedersachsen) an der Wahl teilnehmen konnten. Im Vorfeld wurden die Mitglieder seit November 2017 aufgefordert, sich mit Meldebogen und Berufsurkunde zu registrieren. Bei den nächsten Wahlen wird es natürlich deutlich mehr Wahlberechtigte geben. Das ist vergleichbar mit einem Umzug. Wenn ich in ein anderes Bundesland ziehe und mich nicht anmelde, kann ich auch nicht auf den Wählerlisten stehen. (<a target="_blank" rel="nofollow" href="http://www.pflegekammer-nds.de/wahlergebnis-kammerversammlung">www.pflegekammer-nds.de/wahlergebnis-kammerversammlung</a>)
Wieso sind in der Pflegekammer die Arbeitnehmer und nicht die Arbeitgeber Zwangsmitglieder?
Tino Schaft: 
Arbeitgeber verfolgen naturgemäß andere Interessen als Arbeitnehmer. Eine Pflegekammer ist als Berufskammer die gesetzlich legitimierte Vertretung der Pflegefachberufe. Damit ist sie ein wesentliches Instrument der Professionalisierung des Berufes. Weder eine Gewerkschaft noch ein Berufsverband kann pflegefachliche Inhalte für die Pflege rechtsverbindlich regeln. Nur die Pflegekammer hat dazu eine gesetzliche Legitimation. Mit der Pflegekammer beginnt Pflege, sich selbst zu organisieren und den eigenen Beruf weiterzuentwickeln. Diese große Chance ist eine Angelegenheit der Pflegefachpersonen, nicht der Betriebe.
Wieso werden auch bereits berentete Pflegefachkräfte zu Beitragszahlungen aufgefordert?
Tino Schaft: 
Da keine automatischen Meldungen der Rentenversicherungsträger erfolgen, müssen berentete Pflegefachpersonen aktiv auf ihre Mitgliedschaft verzichten. Die Pflegekammer kann das nicht wissen. Wichtig ist, dass Rentnerinnen und Rentner der Pflegekammer einen entsprechenden Nachweis vorlegen. Dann wird natürlich auch kein Beitrag fällig.
Sind ausgebildete Pflegefachkräfte, die nicht mehr in diesem oder einem ähnlichen Beruf tätig sind, auch zur Mitgliedschaft verpflichtet?
Tino Schaft: 
Das Kammergesetz legt die Mitgliedschaft sehr weit aus. Sie liegt auch dann vor, wenn bei der Tätigkeit Kenntnisse oder Fähigkeiten aus einer Pflegeausbildung nur angewendet werden können. Das Verwaltungsgericht Hannover hatte im November 2018 die Klage einer Fallmanagerin abgewiesen. Mitglieder können aber auf ihre Mitgliedschaft verzichten, wenn sie in ihrer aktuellen Tätigkeit keine pflegeberuflichen Fähigkeiten und Kenntnisse anwenden oder gar keiner beruflichen Tätigkeit mehr nachgehen, z. B. Rente.
Thema Beratung: Pflegefachkräfte, die in der Kammer anrufen, berichten, niemanden zu erreichen, obwohl ein Freizeichen zu hören war. Woran liegt das?
Tino Schaft: 
Alle Mitarbeitenden setzen sich mit hohem Engagement dafür ein, alle Anfragen zu bearbeiten. Das Anruf- und auch E-Mail-Aufkommen ist derzeit sehr hoch, so dass es leider auch zu längeren Wartezeiten kommen kann. In der Regel sind die Telefone mit acht Mitarbeitenden besetzt. Die Geschäftsstelle ist telefonisch von 8 bis 16 Uhr erreichbar.
Wieviel verdient der Geschäftsführer? Die mangelnde Transparenz der Gehälter wird kritisiert.
Tino Schaft:
 Die Aufwands- und Entschädigungsordnung für die Mitglieder der Kammerversammlung ist auf der Homepage der Pflegekammer veröffentlicht. Alle Mitarbeitenden der Geschäftsstelle werden entsprechend ihrer Qualifikation und Erfahrungsstufe nach Tarif der Länder bezahlt. Das Gehalt des Geschäftsführers bildet da keine Ausnahme.

Redakteur:

Bianca Marquardt aus Tostedt

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