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Selbstbedienungsmentalität und volle "Geldspeicher" - Handelskammern in der Kritik

Dank Zwangsbeitrag: Viele deutsche Handelskammern schwimmen im Geld. Ein Gerichtsurteil könnte das jetzt ändern | Foto: Foto: ©fotolia / Geando
  • Dank Zwangsbeitrag: Viele deutsche Handelskammern schwimmen im Geld. Ein Gerichtsurteil könnte das jetzt ändern
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(mi). Zehntausende Gewerbetreibende in den Landkreisen Harburg und Stade vom kleinen Kiosk bis zum Großkonzern erhalten derzeit wieder einen Gebührenbescheid der Industrie- und Handelskammern (IHK) Lüneburg-Wolfsburg bzw. Stade. Die Kammern treiben ihre Mitgliedsbeiträge ein. Sehr zum Ärger betroffener Unternehmen, die kritisieren, die Beiträge seien viel zu hoch, die Kammern bereicherten sich auf Kosten der Betriebe. Ein aktuelles Gerichtsurteil gibt den Kritikern jetzt Recht, demnach müssen Kammern, denen es finanziell sehr gut geht, die Beiträge senken.

Gesetz aus den 1950er Jahren schützt die Kammer-Privilegien

Die Macht der 80 deutschen Industrie- und Handelskammern, alle Gewerbetreibenden in Deutschland zu Zwangsmitgliedern machen zu können, geht auf das „Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern“ aus dem Jahr 1956 zurück. Dieses legt fest: Die Kammern sollen „die Gesamtinteressen der Gewerbetreibenden wahrnehmen.“ Ursprünglich bedeutete das, die Kammern sollten als Schnittstelle zwischen Unternehmen, Behörden und Gesetzgeber fungieren. Dazu wurden ihnen bestimmte Aufgaben vom Staat übertragen, wie zum Beispiel die Abnahme von Prüfungen im Rahmen der Berufsausbildung. Im Laufe der Jahre haben die Kammern allerdings viele weitere Aufgabenfelder besetzt. Sie betreiben Marketing-Kampagnen für das Gewerbe, bieten Beratung in Unternehmensfragen an, veranstalten Aus- und Fortbildungsseminare und verlegen sogar eigene Magazine, um nur einiges zu nennen.

11 Millionen Euro allein aus Zwangsbeiträgen

Finanziert wird all das aus den Beiträgen der Kammermitglieder. Mitglied ist laut Gesetz jedes Unternehmen, das Gewerbesteuer zahlt. In der IHK Lüneburg-Wolfsburg sind das derzeit rund 65.0000 Betriebe, bei der IHK Stade ca. 48.000. Die Höhe des jährlichen Mitgliedsbeitrages legen die Kammern selbst fest. Im Kammerbezirk Lüneburg-Wolfsburg sind das durchschnittlich 337 Euro. Im Kammerbezirk Stade 323 Euro. Die vermeintlich niedrige Zahl täuscht. Denn je nach Betriebsgröße und Umsatz führt manches Unternehmen jährlich Summen im fünfstelligen Bereich an die Kammer ab. Im Jahr 2014 kassierte die IHK Lüneburg so 11,7 Millionen Euro aus Beiträgen. In Stade waren es 8,5 Millionen Euro.

Unternehmer sehen oft keinen Vorteil in der Kammermitgliedschaft

Immer mehr Unternehmer in der Region fragen sich allerdings, was ihnen die IHK-Mitgliedschaft bringt. Einer von ihnen ist Karl-Heinz Hillmer, er betreibt in der Samtgemeinde Salzhausen ein kleines Zwei-Mann-Unternehmen, das u.a. Kanus verleiht. „Es ist ein Unding, ich werde gezwungen für einen Verein zu zahlen, der mir keinerlei Vorteile bringt. Der Kleinunternehmer bezweifelt, dass seine Beträge bei der Kammer gut aufgehoben sind. „Ich sehe nur die hohen Gehälter und die schicken Gebäude, mehr sage ich dazu nicht.“

Das Geschäft mit den Immobilien-GmbHs. Unternehmen werden quasi doppelt abkassiert

Auch Christopher Haas, Geschäftsführer der „Asup GmbH“, sieht keine Vorteile in der Kammer(zwangs)mitgliedschaft. Die „Asup GmbH“ mit Hauptsitz in Seevetal ist ein deutschlandweit tätiger Komplettausrüster für Entsorgungs- und Schadstoffsanierungsunternehmen. Christopher Haas: „Wir zahlen jährlich Beiträge im hohen vierstelligen Bereich und haben so gut wie nichts davon. Das einzige, was die Kammer macht, ist die Ausbildungsbegleitung, das kostet aber extra Gebühren. Besonders ärgert den Unternehmer die Praxis der IHK, einen Betrieb quasi doppelt abzukassieren. Hintergrund: Viele Betriebe würden unter ihrem Dach Immobilien GmbHs gründen. Diese GmbHs dienten dem internen Ablauf und träten außenwirtschaftlich überhaupt nicht in Erscheinung, erklärt Haas. Die IHK behandele sie aber als normale Mitglieder, sodass ein Betrieb je nach Anzahl seiner GmbHs mehrfach zur Kasse gebeten werde.

"Eine beispiellose Selbstbedienungsmentalität

Kai Boedinghaus vom Bundesverband für freie Kammern (bffk), der sich für eine Abschaffung des Kammerzwangs stark macht, versteht den Unmut der Unternehmer. Seit Jahren prangere der bffk Misswirtschaft, aufgeblähte Personalapparate, üppige Pensionen und Gehälter sowie riesige Vermögen bei den Kammern an. Es herrsche eine beispiellose Selbstbedienungsmentalität.
In der Region stehe hier die IHK Lüneburg-Wolfsburg wegen gigantischer Pensionsrückstellungen im Fokus der Kammerkritiker.
Rückblick: Bis die Praxis 2008 aufflog, stockte die IHK Lüneburg-Wolfsburg Mitarbeitern, die bis zum Jahr 2000 eingestellt wurden, die Rente auf 75 Prozent des letzten Bruttogehalts auf. Ein Gutachten, das diese Praxis später untersuchte, konstatierte: „Bei einigen Mitarbeitern liegt die Pension höher als das Gehalt, das sie als IHK Mitarbeiter erhielten. Im Laufe der Jahre entstanden bei der Kammer durch die hohen Pensionsversprechen horrende Mehrkosten. Der Geschäftsführer, der diese Praxis beendete, musste wenig später wegen eines „zerütteten Vertrauensverhältnisses“ seinen Hut nehmen. Und erhielt dafür aus Kammerbeiträgen ein „Schmerzensgeld“ von 400.000 Euro.
So muss die Kammer über 21 Millionen Euro für die Absicherung kommender Pensionen zurückstellen - Tendenz steigend. Zum Vergleich: In Stade sind es 3,7 Millionen Euro. Auch steigen bei der Kammer in Lüneburg die laufenden Pensionskosten. Gab die Kammer 2011 noch gut 1 Million aus, sind es 2014 schon gut 1,5 Millionen. Ähnlich sieht es beim Personal aus. Schlugen Ausgaben dort 2010 noch mit 5,5 Millionen Euro zu Buche, waren es 2014 schon 8 Millionen Euro. Und das obwohl die Mitarbeiteranzahl in dem Zeitraum gesunken ist. Fast 400.000 Euro der Personalkosten fließen in die höchsten drei Gehälter.

"Notgroschen" von zwölf Millionen Euro

Doch trotz der steigenden Ausgaben häuft die IHK Lüneburg Wolfsburg Geld an. So stieg die sogenannte Ausgleichsrücklage, ein „Notgroschen“, den die Kammer zurücklegt, um Beitragsschwankungen auszugleichen, von 5 Millionen Euro im Jahr 2011 auf aktuell 7,6 Millionen. Zum Vergleich: In Stade sind es seit Jahren konstant 4 Millionen. Doch die IHK Lüneburg belässt es nicht bei der Ausgleichsrücklage, dazu kommen weitere Finanzpolster etwa für Gebäudesanierung oder den Ausgleich von Zinsausfällen. Sodass die Kammer im Jahr 2015 insgesamt rund zwölf Millionen Euro als Reserve hortete.

Bundesverwaltungsgericht geht Kammern ans Vermögen

„Das ist viel zu viel“, ist sich Kammerkritiker Kai Boedinghaus sicher. Und er könnte Recht behalten, denn mit dem Bundesverwaltungsgericht haben die Kammergegner jetzt einen mächtigen Verbündeten. In einem aktuellen Urteil gegen die Handelskammer Koblenz legte das Gericht fest, dass Rücklagen nicht in beliebiger Höhe angehäuft werden dürfen. Zu hohe Rücklagen müssen in Zukunft abgebaut, sprich an die Mitglieder zurückerstattet werden.
Für Kai Boedinghaus und seine Mitstreiter ein wegweisendes Urteil, das die Finanzierungspraxis der Kammern komplett auf den Kopf stellen könnte. Nach Interpretation des bffk sind damit alle aktuellen Beitragsforderungen der Kammern grundsätzlich anfechtbar. „Wer in diesem Jahr an die Kammer zahlt, sollte sich statt einer Rechnung lieber eine Spendenbescheinigung ausstellen lassen“, spitzt Boedinghaus zu.

Kammer-internes Schreiben rät zum Abbau der hohen Rücklagen

Bei den Kammern in Lüneburg und Stade sieht man sich von dem Urteil allerdings nicht betroffen. Beide Institutionen erklärten gegenüber dem WOCHENBLATT, man bilde gemäß des eigenen Finanzstatuts Rücklagen in der Höhe von ca. 50 Prozent der Gesamtaufwendungen. Diese Praxis sei gesetzeskonform und nicht zu beanstanden. An den Beiträgen werde sich demnach nichts ändern.
Doch ist das wirklich so? Nach WOCHENBLATT-Information kursiert zumindest bei einer der niedersächsischen Handelskammern bereits ein internes Papier, das davon ausgeht, dass künftig nur noch Rücklagen in Höhe von maximal 10 Prozent der Gesamtausgaben rechtskonform sein könnten.

Redakteur:

Mitja Schrader

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