Weltfrauentag 2022
Frauen werden auch im 21. Jahrhundert bevormundet

Beraten in der Anlaufstelle für Schwangere des Herbergsvereins, Altenheim und Diakoniestation zu Tostedt: Gesa Reinhold und Helge Johannsen | Foto: bim
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bim. Tostedt. Frauen fliegen zum Mond, Frauen lenken als Staatsoberhäupter die Geschicke von Millionen Menschen, Frauen erfinden Impfstoffe, die die Menschheit vor einem tödlichen Virus retten, Frauen dürfen (in den westlichen Gesellschaften) schon seit Jahrzehnten über sich und ihr Leben alleine entscheiden. Mit einer Ausnahme, und die betrifft ihre Gebärmutter. Die gehört dem Staat.

Auch im Jahr 2022 ist ein Schwangerschaftsabbruch nach Paragraf 218 ein Straftatbestand, mit dem Paragrafen 219, der Schwangeren eine Beratung aufzwingt, werden Frauen bevormundet. "Es ist ein Einschnitt in die Selbstbestimmtheit der Frau", bestätigt Helge Johannsen, Geschäftsführer des Herbergsvereins, Altenheim und Diakoniestation zu Tostedt. Dort gibt es im Rahmen der sozialen Beratung seit 25 Jahren auch eine Anlaufstelle für Schwangere. Helge Johannsen hat selbst zwei Jahre lang Schwangere im Rahmen seiner Tätigkeit bei "Pro Familia" in Bremen beraten. Beim Herbergsverein nimmt diese Aufgabe Gesa Reinhold wahr.

1871 ins Strafgesetzbuch
aufgenommen

Der Paragraf 218 wurde im Jahr 1871 ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Demnach gilt ein Schwangerschaftsabbruch als rechtswidrig. Er bleibt aber straffrei, wenn er innerhalb der ersten drei Monate und nach einer Konfliktberatung durchgeführt wird. Nicht rechtswidrig ist eine Abtreibung ausdrücklich, wenn eine medizinische oder kriminologische Indikation vorliegt.

Paragraf 219 schreibt eine (Konflikt-)Beratung vor. "Ohne Beratungsschein dürfen Frauen keinen Abbruch vornehmen", erläutert Gesa Reinhold. In Paragraf 219 heißt es u.a.: "Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen."

"Die Frau soll Gründe für einen Abbruch benennen", erläutert Helge Johannsen. Gesa Reinhold ergänzt: "Das greift schon sehr weit in die Privatsphäre ein." Erstaunlich auch: "An einer Schwangerschaft sind zwei Menschen beteiligt. Aber Männer werden nicht dazu verpflichtet, mit in die Beratung zu kommen", so Johannsen. Obwohl sich das Angebot auch ausdrücklich an die Partner richte, werde das nur sehr wenig angenommen.

Gründe für einen gewünschten Schwangerschaftsabbruch können u.a. sein: das Alter der Frau, keine stabile Partnerschaft, eine Lebensplanung ohne Kind oder eine bereits abgeschlossene Familienplanung.

Zwei Drittel der Frauen würden wirtschaftliche Gründe für einen Abbruch angeben, zum Beispiel, dass die Familie wegen Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit geschwächt sei oder man sich ein weiteres Kind und den Verzicht auf ein zweites Einkommen nicht leisten könne. "Ich habe damals auch oft junge Frauen beraten, die noch in der Ausbildung oder im Studium waren oder gerade erst im Berufsleben Fuß gefasst haben", berichtet Helge Johannsen.

Neben der finanziellen gibt es die kriminologische Indikation, wenn eine Frau durch eine Vergewaltigung schwanger wird, sowie eine medizinische Indikation, wenn die Schwangerschaft eine schwere Gefahr für das Leben oder die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren bedeutet oder wenn beim Kind mit schwerwiegenden Krankheiten zu rechnen ist.

"Mitunter wirken die vorgebrachten Begründungen wie auswendig gelernt. Daran sieht man, wie groß der Druck auf Frauen ist, wenn sie das Gefühl haben, eine große Hürde nehmen zu müssen, um über ihr Leben bestimmen zu können", so Helge Johannsens Erfahrungen.

Eine ungeplante Schwangerschaft zu beenden, ist keine leichte Entscheidung. "Ich habe in meinen Beratungen nie einen laxen Umgang mit der Schwangerschaft erlebt. Es war für alle ein berührendes Thema, das ernst genommen wird", sagt Johannsen.

Auch Verhütung ist
immer noch Frauensache

Nicht nur, dass Frauen im 21. Jahrhundert nicht ohne Beratung durch Dritte über ihren Körper und ihr Leben entscheiden dürfen. Sie bekommen bei ungewollten bzw. ungeplanten Schwangerschaften womöglich auch noch die Schuld vom Partner: "Hast du die Pille vergessen?" Denn auch Verhütung ist bis heute fast ausschließlich Frauensache. "Viele Männer beteiligen sich nicht einmal finanziell an der Pille", weiß Johannsen.

"Wir verstehen die Beratung aber als Gesprächsangebot", betont Gesa Reinhold. Niemand werde verurteilt, alle sollen sich angenommen fühlen. Vielmehr sollen schwangere Frauen über Durchführung und Risiken von Schwangerschaftsabbrüchen aufgeklärt werden. Die Berater informieren bei Bedarf zum Beispiel auch über Mittel zur Wohnungsfinanzierung, über "Startergeld" für Umstandskleidung oder Erstausstattung und andere finanzielle Hilfen und stellen bei Bedarf weitere Kontakte her.

Gesa Reinhold und Helge Johannsen sind sich aber einig: "Der Paragraf 218 ist nicht mehr zeitgemäß. Jede Frau muss die Entscheidung für sich, über ihren Körper und ihre Zukunft selbst treffen."

Von Gleichberechtigung bis Genitalverstümmelung
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Redakteur:

Bianca Marquardt aus Tostedt

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