"Interview der Woche" mit Psychiatrie-Facharzt Dr. Peter Schlegel über zunehmende Onlinesucht
Das Internet wird für Onlinesüchtige zur Falle

"Dunkelziffer der Onlinesüchtigen ist sehr hoch": Dr. Peter Schlegel, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Kreis Harburg | Foto: Landkreis Harburg
  • "Dunkelziffer der Onlinesüchtigen ist sehr hoch": Dr. Peter Schlegel, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Kreis Harburg
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ce. Winsen. Bis zu 1,5 Millionen Menschen in Deutschland - und damit etwa drei Prozent der Bevölkerung - sind Experten zufolge onlinesüchtig. Täglich vier Stunden und mehr surfen sie im Internet zwischen Spielen, Shoppingangeboten und Sexseiten, während das reale Leben in Familie, Schule und Beruf für sie kaum noch stattfindet. Im "Interview der Woche" sprach WOCHENBLATT-Redakteur Christoph Ehlermann mit Dr. Peter Schlegel, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Landkreis Harburg, über die Zunahme der Onlinesucht in Corona-Zeiten, die Symptome dieser Abhängigkeit und Hilfsangebote.
WOCHENBLATT: Herr Dr. Schlegel, inwieweit hat sich das Problem der Onlinesucht durch die Corona-Pandemie verschlimmert?
Dr. Peter Schlegel: Durch die Kontaktbeschränkungen und die damit verbundene Einsamkeit und Langeweile hat sich das Problem aus unserer Sicht deutlich verschärft. Noch mehr Menschen sind zu viel im Internet unterwegs und verbringen damit mehr Stunden als vor der Pandemie. Vor allem durch das Homeoffice oder Homeschooling verbrachte man zwangsläufig mehr Zeit im Internet – und das hat manche dazu verleitet, das Internet nebenbei auch für andere Dinge zu nutzen.
WOCHENBLATT: Welche Symptome gibt es für die Onlinesucht?
Schlegel: Zu den häufigsten Symptomen gehört der Kontrollverlust. Das bedeutet, dass man seine Internetnutzung nicht mehr kontrollieren kann, vor allem der Zeitumfang wird unterschätzt. Trotz negativer Folgen – dazu gehören Konflikte mit dem Partner, Probleme in der Schule oder am Arbeitsplatz - wird weiterhin an der Nutzung festgehalten. Wenn man keinen Zugang zum Internet erhält, können Unruhe oder Unzufriedenheit auftreten.
Ein wichtiger Aspekt ist außerdem, dass mit der übermäßigen Nutzung die eigenen Gefühle manipuliert werden und für ein Glücksgefühl sorgen, das viele Menschen im realen Leben nicht so leicht erreichen. Es kommt zu einer Flucht aus der realen Welt in die virtuelle Welt. Menschen möchten Belastungen und Anforderungen aus dem „echten Leben“ entfliehen bzw. diese vermeiden.
WOCHENBLATT: Spiele, Shopping oder Sex - welche Internetangebote sind bei Süchtigen besonders begehrt?
Schlegel: Bei Männern ist überwiegend eine Online-Spielsucht ausgeprägt, bei Frauen eine Tendenz zu Social-Media-Plattformen. Das sind jedoch nicht die einzigen Formen. Es bestehen auch eine Internetabhängigkeit von Online-Sexseiten, eine Online-Kaufsucht und auch -Glücksspielsucht. Das Problem zieht sich durch alle Altersgruppen. In der von uns angebotenen, therapeutisch angeleiteten Selbsthilfegruppe sind alle Teilnehmer jeglicher Art der problematischen Internetnutzung willkommen.
WOCHENBLATT: Wie können die Gruppe und die Suchtberatung Betroffenen helfen?
Schlegel: Teilnehmer berichten, dass der offene und freundliche Kontakt miteinander eine grundlegende vertrauliche Basis schafft. Der vertraute Raum hilft ihnen, zu wissen, dass sie nicht allein sind und dass auch andere das ähnliche Probleme haben und dies nachvollziehen können. Oft trägt der Austausch erst dazu bei, überhaupt zu erkennen, dass ein Problem vorhanden ist. Die Teilnehmer berichten von Selbsterfahrungen, das heißt, sie lernen sich selbst immer besser kennen. Durch den regelmäßigen Austausch entwickelt jeder individuelle Strategien, um das eigene Verhaltensmuster zu beobachten und zu ändern. Die Gruppe bietet einen Ansporn, sich individuelle Ziele zu setzen – und sei es zunächst nur eine Reduzierung der täglichen Nutzungszeit – und von diesen dann berichten zu können. Gegenseitige Motivation und vor allem Unterstützung untereinander hilft beispielsweise, nicht mehr am Computer zu spielen. In Krisensituation oder bei Rückfallgefahr wird sich gegenseitig Mut gemacht. Und bei einem Rückfall wird darüber gesprochen, aber nicht geurteilt. Jeder setzt sich seine individuellen Ziele. 
Aus Sicht der Suchtberatung ist dies ein ganz neues Themenfeld. Die Berater müssen umdenken, da eine Abstinenz vom Internet heutzutage gar nicht mehr möglich ist. Es ist ein neuer Raum geschaffen, um sich über diese Thematik auszutauschen und gegenseitig voneinander zu lernen.
Die Suchtberatung bietet außerhalb der Gruppengespräche auch Einzelberatung an und stellt die Vermittlung in gegebenenfalls gewünschte Therapieformen dar. Es besteht die Möglichkeit einer ambulanten, teilstationären oder auch stationären Therapie. Es wird über alle Optionen aufgeklärt und dann auf den Wunsch des Betroffenen eingegangen. Durch diesen neuen Themenbereich entwickeln sich mittlerweile immer mehr neue Angebote, spezialisiert für die Online-Sucht in allen Bereichen.
WOCHENBLATT: Können Sie aus Ihrer Praxis besonders gravierende Fälle von Onlinesucht und ihre Auswirkungen auf den Alltag der Süchtigen schildern?
Schlegel: Die Onlinesucht kann sich bei Betroffenen ganz unterschiedlich auswirken. Die Gesundheit ist bei vielen gefährdet. Durch Teilnahme an Online-Computerspielen sitzen viele beispielsweise nur noch vor dem Computer, bewegen sich nicht und ernähren sich schlecht. Übergewicht, aber auch gravierende Schlafstörungen und Störungen im Tag-Nacht-Rhythmus sind die Folge.
In extremen Fällen wollen Betroffene ihren Computer wegen eines Spieles nicht mehr verlassen. Sie müssen dann selbst ihre Notdurft vor Ort am Sitzplatz verrichten, um nichts im Spiel zu verpassen. Die Auswirkungen vor allem auf das soziale Leben in der realen Welt und das eigene Empfinden dürfen nicht unterschätzt werden. Bindungen gehen verloren, andere Hobbys werden aufgegeben, Beruf und Tagesstruktur vernachlässigt. Depressionen können eine Folge sein. Im schlimmsten Fall kann auch diese Sucht mit einem Suizid enden.
WOCHENBLATT: Laut Expertenschätzungen sind deutschlandweit gut eine Million Menschen süchtig nach dem Internet. Wie sieht es mit der Dunkelziffer aus?
Schlegel: Die Dunkelziffer ist höchstwahrscheinlich sehr hoch. Der fließende Übergang erschwert es in Verbindung mit Scham zusätzlich, sich das Problem einzugestehen und auf Hilfen zuzugehen. Auch hier wollen wir beispielsweise mit unserem Gruppenangebot die Hemmschwellen senken und es Betroffenen erleichtern, Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
WOCHENBLATT: Herr Dr. Schlegel, vielen Dank für das Gespräch.
• Das komplette Interview lesen Sie unter www.kreiszeitung-wochenblatt.de. Die Suchtberatung des Landkreises Harburg erreichen Interessierte unter Tel. 04171 - 693517 oder per E-Mail an v.eggert@lkharburg.de. Dort gibt es auch Infos zur Selbsthilfegruppe. Beim Kreis Stade sind die Suchtberater beim Amt für Jugend und Familie (Tel. 04141 - 125111, E-Mail jugendamt@landkreis-stade.de) zu erreichen.

Redakteur:

Christoph Ehlermann aus Salzhausen

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