"Unsere Generation wird kaputtgemacht"
Brandbrief an Ministerpräsident Weil

Jule Strietzel, hier an der Akropolis in Athen, ist Mitglied im Hamburger Kickbox-Landeskader. Ihren Sport kann sie derzeit nur begrenzt ausüben  | Foto: Strietzel
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  • Jule Strietzel, hier an der Akropolis in Athen, ist Mitglied im Hamburger Kickbox-Landeskader. Ihren Sport kann sie derzeit nur begrenzt ausüben
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JOBS und KARRIERE

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(os). Als Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten bekanntgaben, dass künftig nicht mehr 50, sondern 35 der magische Inzidenzwert zur Lockerung der Corona-Beschränkungen sein solle, war für Jule Strietzel (15) das Maß voll. Die Gymnasiastin aus Maschen (Landkreis Harburg) entschloss sich, einen Brief zu schreiben, in dem sie in deutlichen Worten auf die missliche Lage der Schüler aufmerksam macht. Auch dass Kinder und Jugendliche seit Monaten keinen Vereinssport mehr treiben können, nervt die Kickboxerin, die im Hamburger Landeskader steht, gewaltig. Nach Absprache mit ihren Eltern schrieb Jule den Brief an Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD). Viele aus ihrem Freundeskreis sähen die Lage ähnlich wie sie, betont die Zehntklässlerin. Das WOCHENBLATT druckt den Brief in weiten Teilen im Wortlaut:

"Guten Tag, Herr Weil, ich weiß, Sie und Ihr Team bekommen bestimmt eine große Anzahl von Mails zugeschickt. Jedoch bitte ich sie, meine E-Mail durchzulesen, um sich die Meinung, Sorgen und Ängste einer Schülerin anzuhören. Denn die Meinung meiner Generation ist am wichtigsten. Sind wir nicht die, die dieses Land in Zukunft in unseren Händen halten? (...)


Beim Sport kann
man Stress abbauen

Ich finde es sehr schade, dass uns Jugendlichen die Möglichkeit, in einem Sportverein weiterhin Sport zu machen, komplett verwehrt wird. Mit einem passendem Hygienekonzept wird das doch wohl sicher gehen. Im 'Lockdown-Light' war das auch möglich. (...) Wir dürfen seit knapp zwei Monaten keinen Vereinssport mehr machen und das ist für mich als Leistungssportlerin fatal! Beim Sport können nicht nur wir Jugendlichen Stress abbauen, sondern auch alle anderen. Nicht zu vergessen, wie wichtig Sport für die Gesundheit ist. Klar kann man, wie es immer betont wird, joggen gehen oder 'Home-Workouts' machen. Doch als Sportlerin kann ich ihnen sagen, dies ist bei Weitem nicht dasselbe, wie einen Trainer zu haben, der einen verbessert, motiviert, pushed. Und das Wichtigste ist das Teamgefühl.
Die Sportler, die seit Jahren auf ein bestimmtes Ziel hinarbeiten, bekommen immer wieder Herzrasen, wenn gesagt wird, dass ab einem bestimmten Inzidenzwert Sportstätten wieder öffnen dürfen. Sie können sich bestimmt vorstellen, was das für ein Gefühl ist, wenn dann nach jeder neuen Konferenz wieder beschlossen wird, dass der Inzidenzwert niedriger sein muss.


Wir müssen geradebiegen,
was versäumt wird

Die Glaubwürdigkeit der Politiker geht hier wirklich verloren - und sind wir nicht die, die in ein paar Jahren wählen? (...) Viele private Sportstätten, und natürlich auch alle anderen Geschäfte, sind durch die jetzigen Maßnahmen in ihrer Existenz bedroht. Die Wirtschaft geht dadurch massiv kaputt, kleine Unternehmen werden viel zu wenig unterstützt. Meine Generation ist die, die das alles wieder geradebiegen muss, was hier versäumt wird.
Ein nächster extrem wichtiger Punkt sind soziale Kontakte. Ich persönlich halte die Kontaktbeschränkung zwar für sinnvoll, doch ist es nicht etwas zu drastisch, nur noch eine Person in seinem gesamten Haushalt empfangen zu dürfen? Für einige Jugendliche und sicherlich auch Erwachsene ist es ohnehin schon schwer genug mit all dem Kummer, den man mit sich trägt. Jetzt hat man nicht mal die Möglichkeit, sich mit zwei bis drei Freunden zu treffen, Spaß zu haben und über seine Probleme zu reden (...).


Direkte Treffen
machen glücklich

Der Punkt, man könne sich ja auch am Telefon oder über Videochat unterhalten, hört sich zunächst sehr schön an, doch nach fast einem Jahr Videochat kann ich Ihnen (...) sagen, das ist nicht das Gleiche! Freunde zu sehen, mit ihnen zusammen zum Beispiel Schlittschuh zu laufen oder zu skaten ist das, was uns Jugendliche glücklich und vor allem gesund macht.
Sie können sich bestimmt an Ihre Jugend erinnern und waren wahrscheinlich auch abenteuerlustig, wollten ständig neue Sachen ausprobieren und am liebsten sich mit Freunden treffen, anstatt den ganzen Tag zu Hause im Bett zu liegen.
Außerdem wird ja oft genug betont, wie furchtbar es doch sei, dass unsere Generation nur vor der Spielekonsole, dem Handy oder dem Laptop sitzt. Aber was machen wir denn jetzt gerade? Wir sitzen den ganzen Tag davor und es reicht. Jugendliche wollen rausgehen und draußen etwas mit Freunden erleben. Diese viel zu strengen Kontaktbeschränkungen machen unsere Generation kaputt. Unsere mentale Gesundheit wird aufs Höchste auf die Probe gestellt und in vielen Fällen versagt sie. Möchten Sie, dass die Zukunft Deutschlands, Europas und der gesamten Welt eine Generation von Depressiven, Menschen mit Burn-out und ohne Routine wird?


Präsenzunterricht ist
deutlich zielführender

Mein letzter Punkt bezieht sich auf den Sektor Bildung. Wir sind seit mehr als zwei Monaten im Homeschooling. Am Anfang war es noch witzig, aber jetzt ist es genug. Es gibt meiner Meinung nach (...) nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir gehen in das Szenario B (Wechselunterricht) oder Szenario A (vollständiger Präsenzunterricht), denn so haben wir den Kontakt zu den Lehrern und anderen Menschen und können effektiver, schneller und vor allem auch zielführender arbeiten. Mal davon abgesehen würde das auch den Punkt 'Kontakt mit anderen' ausgleichen und vielen würde es so schon viel besser gehen. Durch die Szenarien A und B würden viele auch wieder eine Struktur und eine Routine in ihrem Leben bekommen, was für den Menschen enorm wichtig ist. Mit einer Routine und nicht durch das ständige Rumliegen wird man produktiver und motivierter, und das ist es doch, was die Zukunft braucht. Motivierte und produktive Menschen.
Die andere Möglichkeit ist es, das Homeschooling besser zu gestalten. Wir brauchen Lehrer, die sich mit dem Internet auskennen und für die es kein 'Neuland' ist. Außerdem ist es wichtig, dass wir nicht mit unseren Aufgaben komplett alleine gelassen werden. Ich kann an dieser Stelle mal ein Lob aussprechen, denn seit dem zweiten Halbjahr habe ich an meiner Schule schon mehr Videokonferenzen.


Mehr mit Jugendlichen
zusammenarbeiten

Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich nicht weiß, wie sich unsere Generation weiter entwickelt, wenn sich nicht irgendetwas ändert. Ich möchte in ein paar Jahren nicht die Wirtschaft wieder aufbauen müssen, die wissentlich zerstört wurde. Außerdem möchte ich nicht mit unbelastbaren Menschen zusammenarbeiten müssen oder selber zu einem werden. Ich möchte ein Deutschland, das dafür kämpft, die Wirtschaft (...) mit sinnvollen Plänen am Laufen zu halten. Ein Deutschland, das sich dafür interessiert, wie es der jüngeren Generation geht. Ein Deutschland, das mehr mit Jüngeren zusammenarbeitet, von ihnen lernen kann und ihnen zuhört.
Ich hoffe sehr, dass ich Sie etwas zum Nachdenken anregen konnte. Ich bin für alle Fragen offen.
Mit freundlichen Grüßen,
Jule Strietzel
"

Ein Jahr Corona in Niedersachsen
Jule Strietzel, hier an der Akropolis in Athen, ist Mitglied im Hamburger Kickbox-Landeskader. Ihren Sport kann sie derzeit nur begrenzt ausüben  | Foto: Strietzel
Adressat des Briefes: Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil | Foto: mum
Redakteur:

Oliver Sander aus Buchholz

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